Ganztags 6

ggiacomett

Keine Nation ist in der Lage, über eine andere Nation zu richten.
Thomas Woodrow Wilson

Heute gibt es einen kleinen außerplanmäßigen Sprung in der Reihe. Wir schauen uns den 24. September 1995 an, an dem ich 8700 Tage alt wurde. An dem Tag befand ich mich nämlich auf einem Urlaub im Osten Kanadas.

Kanada ist meiner Meinung nach eines der merkwürdigsten Länder dieser Erde. Immerhin flächenmäßig das zweitgrößte, nimmt es in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Raum ein. Ich kenne z.B. kaum jemanden der nicht ein relativ positives Bild zu Kanada besitzt. Das Klischee spricht von dem „besseren“, oder dem „europäischen“ Amerika. Und, soweit man das in einem dreiwöchigen Urlaub prüfen kann, ist da einiges an dem Klischee dran. Insgesamt wirkten die Kanadier wesentlich aufgeschlossener und weltoffener als die Amerikaner, und besonders die etwas merkwürdige Naivität ihrer Nachbarn teilen sie nicht. Dafür aber scheinen die Kanadier einen ziemlichen Minderwertigkeitskomplex zu besitzen. Die durchaus vorhandenen Unterschiede zu den Amerikanern werden jedenfalls immer wieder deutlich betont, und manchmal hatte es ein wenig von dem Verhältnis der Österreicher zu den Deutschen.

canadaflagSo ganz stimmt das Klischee allerdings doch nicht, besonders im französisch sprechendem Teil. Nun muss dazu gesagt werden, dass wir kurz vor dem Referendum über die Abspaltung von Quebec im Lande unterwegs waren, aber es war schon etwas merkwürdig wie gerade diejenigen die den Franzosen näher sein wollten, eben jene als europäisch geltenden Tugenden am ehesten vermissen ließen. Nun haben es die französisch sprechenden Kanadier natürlich doppelt schwer: Eine Minderheit mit Minderwertigkeitskomplex in einem Land mit Minderwertigkeitskomplex ist schon ein hartes Los. Zumal sie stolz auf die französischen Wurzeln ihrer Kultur sind, und die Franzosen über das Quebecer Französisch nur müde lächeln. Meine französisch sprechenden Mitreisenden hatten jedenfalls ihre liebe Mühe mit der Kommunikation, und das Ausweichen auf Englisch wurde vor dem Referendum äußerst ungern gesehen. Einzige Enklave war Montreal, das so ein wenig den gleichen Status hat wie Brüssel im belgischen Sprachenstreit.

In manchen Dingen sind die Kanadier dann doch sehr nah an ihrem südlichen Nachbarn. Ich erinnere mich da an eine unangenehme Erfahrung bei der ich an einem menschenleeren (!) Strand am Ontariosee mich erdreistet habe nackt ins Wasser zu gehen weil ich gerade keine Badehose greifbar hatte, und prompt von einem Kanadischen Polizisten beinahe verhaftet wurde. Der Tonfall lies vermuten dass ich den kompletten kanadischen Staatshaushalt gestohlen hätte, oder ich einen Terroristen Anschlag größeren Ausmaßes plane.

Was mir übrigens immer wieder auffällt: Wenn des Sommers die Rucksackreisenden in Europa oder sonst wo auf der Welt unterwegs sind, welche Nation hat immer einen Aufnäher ihrer Fahne am Rucksack prangen? Ja genau, die Kanadier. Da nimmt sich die Selbstverliebtheit der Amerikaner gegenüber ziemlich harmlos aus.

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