Der Schlüssel der Geschichte ist nicht in der Geschichte, er ist im Menschen.
Théodore Simon Jouffroy
„Die Charts der 80er“, „Die größten Fernsehmomente der 90er“, „Die 70er Show“. Der Mensch liebt es sich zu erinnern, zurück zu blicken, in Erinnerungen zu schwelgen. Es gab ein 70er-Revival, ein 80er-Revival, und heutzutage feiern die 90er gerade ihr Comeback.
Morgen ist wieder so ein Tag wo man gerne gefragt wird: „Was hast Du heute vor 20 Jahren gemacht?“, „Wie hast Du davon erfahren?“, „Wo warst Du?“. Und jeder erzählt freudig seine Geschichte vom Tag der Geschichte machte.
Wenn mich jemand fragt, dann muss ich ehrlich antworten: „Ich weiß es nicht mehr“. Zu sehr bedrängt mich das kollektive Erinnern in allen Medien, als dass ich mit Sicherheit noch sagen kann was in meiner spärlichen Erinnerung an den 9.11.89 noch der Wahrheit entspricht, und was davon nur Erinnerung der Erinnerung anderer ist. Mit Sicherheit weiß ich nur, dass ein Freund bei mir war und wir die Ereignisse als nicht unglaublich Spektakulär empfanden.
Es war kurz vor meinem 18ten Geburtstag, ich hatte keine Verbindung zu irgendjemandem in der DDR, und die Wochenlange Omnipräsenz ausreisewilliger Ostdeutscher in den Nachrichten hatte eher den gegenteiligen Effekt der Desinteresse. Als Jugendlicher im äußersten Westen der Republik, beschäftigt mit der Last des Erwachsenwerdens, ohne annähernde Ahnung über das Leben der Menschen in der DDR, fühlte ich mich eher belästigt ob der Dinge die dort im Osten passierten. Sie betrafen mich einfach nicht, und die überschwängliche Freude der Menschen in der Tagesschau quittierte ich sogar abfällig mit einem fassungslosem Kopfschütteln.
Nun wird sich also kollektiv erinnert und das ist auch in Ordnung, aber dennoch nehme ich den meisten Geschichten die durch die Medien geistern die Geschichte nicht ab. Nein, es war gewiss nicht genau so wie A. oder B. die Ereignisse erzählen. Denn sie erzählen sie zum wiederholten Male, und dadurch entwickelt sich eine Eigendynamik der Realität mit anderen „Quellen“ nachzuhelfen. Wenn alle es so erzählen, muss es ja so gewesen sein, und ja, richtig, plötzlich erinnert man sich. Geschichten der Geschichte willen. Es passt eben nicht zusammen, dass es ein historischer Tag sein soll, und man selbst hat nur Bohnen geputzt.
Nach dem 11. September sagte man auch, die Welt würde nicht mehr so sein wie vorher. Und in groben Strukturen hat sich auch vieles verändert, aber das Individuum betrifft eine solches historisches Ereignis eben in den seltensten Fällen. Der Mauerfall oder die Anschläge auf das WTC sind vermeintlich solch große Geschehnisse, dass man davon überzeugt ist sein eigenes Leben kann davon nicht unbetroffen bleiben. Und dann wacht man plötzlich 20 oder acht Jahre später auf, und stellt fest dass es für das persönliche Leben so wichtig war wie der sprichwörtliche Sack Reis. Dieser Diskrepanz begegnen wir mit den Geschichten zu geschichtsträchtigen Ereignissen.
Ein gutes Beispiel ist dieses Interview mit dem Journalisten Ricardo Ehrman in der FAZ, der damals die entscheidende Nachfrage an Schabowski gestellt hatte. Ich will ihm nicht zu nahe treten, und ihm auch nichts unterstellen, aber ich hege erheblich Zweifel an einigen seiner Aussagen. Der Ablauf ist filmisch dokumentiert, und da stimmt alles, aber ob seine Gedanken und seine Interpretation der Pressekonferenz zu diesem Zeitpunkt wirklich so waren? Will da sein Gedächtnis evtl. nicht nur ausgleichen, dass es ist nicht so gewesen sein kann, dass er einfach nur seinem Job nachgegangen ist und damit zufällig etwas ausgelöst hat, er aber womöglich in Gedanken schon zu Hause beim Abendessen war? Wie gesagt, ich will ihm nichts unterstellen, aber wie gerne hätte ich gelesen, dass er eigentlich nur so gedrängt hat, weil er endlich Feierabend machen wollte.
Ich würde mich gerne erinnern, allein schon um zu wissen was für banale Dinge ich an den Tagen des Mauerfalls gemacht habe. Aber es war vermutlich so banal, dass ich mich nicht erinnere. Ein paar Monate später bin ich durch die damals noch offiziell bestehende DDR gefahren um von Berlin nach Moskau zu fliegen. Und bereits da habe ich mich geärgert die Ereignisse des Mauerfalls nicht bewusster wahrgenommen zu haben. Vermutlich stimmt das aber auch nicht, und ich möchte nur, dass ich da schon so gedacht habe, um wenigstens ein Stückchen das Gefühl zu bekommen Teil der Geschichte zu sein.
Klasse, dem kann ich nur beipflichten.
Ich kann mich auch nicht an den Tag erinnern.
Einzig der Moment, wo ich mit A. abends vor dem TV in unserer Wohnung saß.
Als ich die Bilder sah, wie die Leute weinten und so emotional gerührt waren. (es sind die gleichen Bilder, die wir neulich auch immer wieder zu sehen bekamen)
Damals wie heute muß ich meine Tränen unterdrücken, denn auch mich rührt es. Aber das lag und liegt nicht an dem Ereignis, sondern weil ich einfach zu nah am Wasser gebaut habe und einfach unwillkürlich mitfühle. Das passiert mir auch bei irgendwelchen Schmalzfilmen im Kino, die völlig fiktiv sind.
In Erinnerung ist mir der Moment auch nicht wegen der Tränen geblieben, sondern nur weil wir es nicht glauben konnten und wir stark vermuteten es handele sich um eine der verrücktesten Falschmeldung der Geschichte.
Und wenn nicht ständig die Bilder jährlich wiederholt würden, dann wüsste wahrscheinlich nicht mal diesen kleinen Zeitausschnitt.
Ein besonderes Interesse hatte ich auch die folgenden Tage nicht für dieses Ereignis, obwohl ich damals (mit 27) durchaus ein anderen politischen Erfahrungshorizont hatte wie ein 18-jähriger. Lediglich der Gedanke an Thomas G. (mit dem hatte ich ein Verhältnis zu der Zeit), der noch ein paar Monate vorher über andere Ostländer mühselig geflüchtet war, war etwas merkwürdig. Er hätte es so viel leichter haben können, aber wir hätten uns dann nicht kennengelernt. Das war’s.
Aber eigentlich wollte ich Dich auf eine ganz andere Begebenheit aufmerksam machen, die zeitgleich ablief und die ich recht mysteriös finde, obwohl ich auch erst nach Jahren davon erfahren habe. (Vielleicht weist Du es ja, als alter Filmkenner, aber dann für die Leser hier)
Du kennst sicherlich den Film ‚Coming out‘ von Heiner Carow.
Das kuriose an dem Film ist, Zitat aus Wiki:
> * Der Film war der erste DDR-Film mit schwuler Thematik und der erste, der die latente Ausländerfeindlichkeit offen thematisierte.
* Der Film wurde am 9. November 1989 im Ostberliner Kino International uraufgeführt; wegen des großen Besucheransturms in einer Doppelvorstellung. Unmittelbar nach den beiden Vorführungen um 19:30 Uhr und 22:00 Uhr wurde das Premierenpublikum Zeuge des Mauerfalls. Die Premierenfeier fand in der Berliner Gaststätte ‚Zum Burgfrieden‘ statt, einem der Drehorte und gelegen in unmittelbarer Nähe (keine 100 m) der Bornholmer Straße, wo zuerst an diesem Abend ein Grenzübergang für die Ostberliner geöffnet wurde.<
Ich sah neulich zu dieser kollektiven Erinnerungsauffrischung auf einem unbedeutenden Sender ein Interview mit Dirk Kummer (Darsteller von Matthias) über das Ereignis.
Er erzählte, daß er vom Kino mit dem Auto zur Feier in die Schwulenkneipe (Zum Burgfrieden) fuhr und er durch den Andrang der Menschen fast genötigt wurde zum Grenzübergang zu fahren. Er geriet in Panik, weil er doch in die Kneipe wollte, unbedingt zur Feier und dieser Rummel um die Grenze ihn gar nicht interessierte.
Als die ersten mit der Nachricht (die Mauer ist auf) in die Kneipe kamen, wurden sie nur leicht belächelt und auch als die ersten mit Cola und Bildzeitung antanzten, glaubte man ihnen zwar, aber die Gäste feierten nicht wegen des Mauerfalls (das war dort nur Nebensache) sondern weil sie einen schwulen Erfolg zu verbuchen hatten.
Erstaunlich finde ich die merkwürdigen Zufälle (allein der Name des Films, der ja auch sehr passend für die Ostberliner stehen könnte)
Im Film gibt es ein Monolog von dem 'Alten Schwulen' in der Kneipe, wo er dem geknickten Philipp seine persönliche Geschichte (dritte Reich) erzählte. Dort spricht er von dem Rummel über die Wiedergutmachung der Juden und dem Gedenken der jüdischen und politischen Opfer aber er bemerkt, daß man die Schwulen völlig vergessen habe.
In der Tat, so geschah es vor 20 Jahren wieder: Der Mauerfall hat den 'armen Würstchen' die Show gestohlen und an den wahren "Christopher-Street-Day" der DDR erinnern sich nur ganz wenige.
Die armen DDRler konnten endlich raus, sie hatten es ja sooo schwer.
Ach…, gab es da noch Randgruppen, die es noch viel schwerer hatten?