Nicht jeder Herbst füllt die Vorratsspeicher.
Aus Estland
Der 29. August 1977: Ich werde also 300 Wochen, bzw. 2100 Tage alt. Diese Woche war vermutlich noch relativ normal und ereignislos; Ein Spätsommertag eines heißen Sommers. Eine Woche vorher hatte die Schule wieder begonnen, das bedeutet für mich das letzte Jahr Kindergarten.
Die Sommerferien haben wir mit höchster Wahrscheinlichkeit in Oberbayern verbracht, weil meine Eltern ein Jahr vorher dort angefangen haben ein Haus zu bauen. Seit dem hießen meine Ferienziele der Kindheit und Jugend abwechselnd Mühldorf am Inn und die Türkei.
Die Türkei fand ich meist spannender, bedeutete dies doch mittlerweile mit dem Flugzeug zu fliegen. Die Fahrten nach Bayern kamen mir dagegen immer endlos vor.
Erstaunlicherweise erinnere ich mich am meisten an Gerüche aus der Zeit – also dem Geruch des heißen Teers und der Autoabgase im Stau zwischen Würzburg und Nürnberg, vermischt mit dem ganz eigenen Geruch der belegten Brote und gekochter Eier die als Verpflegung mitgenommen wurden.
Der Geruchs-Trigger aus der Türkei ist ein besonderer Duft aus den dortigen Lebensmittelläden. Ich kann ihn nicht beschreiben, und nur noch manchmal begegnet er mir wenn ich bestimmte Streichholzschachteln oder gewisse Putzmittel rieche. Und dann ergreift mich eine seltsame Sehnsucht nach nackten Füßen auf heißem Asphalt und ein unbändiger Appetit nach frischem, noch Ofenwarmen, Simit. Übrigens sind dies die Momente wo mir dann plötzlich wieder verlorene geglaubte türkische Vokabeln einfallen, wie z.B. vi?ne suyu (Kirschsaft). Verkauft in kleinen dickwandigen braunen Glasflaschen war dies der größte Genuss den ich als Kind in der Türkei hatte, und dessen Geschmack bis heute unerreicht ist.
Man muss sich übrigens vor Augen halten, dass die Türkei zu dieser Zeit ein noch recht ungewöhnliches Reiseziel war, und es touristisch bei weitem nicht so ausgebaut war wie heutzutage. Die Stadt Ku?adası war damals eine einfache Hafenstadt die ich heute vermutlich nicht mehr wieder erkennen würde. Das blonde kleine Kind auf dem Arm unseres türkischen Freundes zeigt mich in Mitten meiner Geschwister und einem türkischen Spielkameraden in einem Laden in Ku?adası.
Diese blonden Haare haben mir übrigens die einzigen nicht so guten Erinnerungen an die Türkeireisen eingebracht. Ich hatte als Kind extrem blonde Haare, beinahe schon Wasserstoffblond, und da dies dort nicht so weit verbreitet ist wurde ich bei den großen Familienfeiern immer von einer vollbusigen Mutti zur nächsten gereicht, die mich intensivst abknutschte weil ich in ihren Augen so niedlich war.
Nun, das sind natürlich kumulierte Erinnerungen die sich nicht nur auf das Datum der 300sten Woche beziehen. Genau eine Woche nach dem 29.8. hat in unserer Stadt ein Ereignis stattgefunden, das in die deutsche Geschichte eingehen würde: Die Schleyer-Entführung, und damit der Beginn des deutschen Herbstes. Ich bin noch nie auf die Idee gekommen meine Eltern zu interviewen wie sie diese Zeit erlebt haben, und wie die Stimmung und Atmosphäre in der Woche danach bei uns war, schließlich spielte sich alles in unmittelbarer Umgebung ab. Mit der Aufgabe dies nachzuholen schließe ich den heutigen Erinnerungsbeitrag.
Heute bist du ja noch näher dran: es ist ja quasi nur ein paar Straßen weiter passiert.
P.S. Birne ist besser als Kirsch B-)
Aber natürlich ist Birnensaft besser, aber die hatten in der Türkei damals in diesen Flaschen alle möglichen Fruchtsorten und die waren einfach köstlich. Meine Eltern haben mir halt immer Kirsch oder Aprikose gekauft, die konnten ja nicht wissen das ich Birnenjunkie bin. Vermutlich haben die aus der Reihe auch Birne gehabt. Müsste mal wieder in die Türkei um zu schauen ob es die noch gibt.
Ja stimmt, hier wäre ich noch näher am Geschehen gewesen, aber damals hat uns noch nichts nach Sülz verschlagen.